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Von abgebrochenen Brücken und eingetretenen Türen (Runde 4)

February 19, 2023

Nach Remis roch es schon kurz nach dem 30. Zug, als zwischen Nodirbek Abdusattorov und Praggnanandhaa ein symmetrisches Turmendspiel entstanden war. Mehr im Scherz, kichernd fast zählten Yasser Seirawan und Anastasiya Karlovych im Livestream die akademischen Vorteile der weißen Stellung auf: ein klein wenig mehr Raum, ein etwas aktiverer König, ein etwas aktiverer Turm. Sie sprachen es nicht aus, aber ließen durchblicken, dass sie nun jeden Moment einen Friedensschluss erwarten.

WR Chess Masters 2023 – Runde 4
Im Livestream doziert Anish Giri über den Unterschied zwischen menschlichem und Maschinenvorteil. Der eine Großmeister auf dem Sofa, Giri-Sekundant Jan Gustafsson, hört aufmerksam zu. Der andere, Turnierdirektor Sebastian Siebrecht, ist schon mit den Planungen für den Ruhe- und Rosenmontag beschäftigt. | Foto: Lennart Ootes

Die beiden Experten lagen falsch. Bis zum 58. Zug versuchte Abdusattorov, seinen Mini-Vorteil in Greifbares zu verwandeln. Erst als jeweils nur noch ein Turm auf dem Brett stand, schlossen der Usbeke und der Inder Frieden. Ihre fehlerfreie Partie mag als Beleg dafür dienen, dass es nicht am fehlenden Kampfgeist liegt, wenn Unentschieden zu notieren sind, nachdem sich der Pulverdampf verzogen hat. In der vierten Runde waren fünf solcher Unentschieden zu notieren.

WR Chess Masters 2023 – Runde 4
Als Beobachter die Partie längst abgehakt hatten, musste sich Praggnanandhaa fortgesetzer Versuche von Nodirbek Abdusattorov erwehren. | Foto: Lennart Ootes

Ähnlich, allerdings nicht so lange, dafür mit mehr Pulverdampf, lief es auf dem Brett von Jan-Krzysztof Duda und Levon Aronian. Wie sehr beide wollten, ließ sich bald daran ablesen, dass beide auf die Sicherheit ihres Königs pfiffen. Anstatt den eigenen Laden dichtzuhalten, stürmten sie munter auf den Laden gegenüber los, eine Partie nach der Devise "hinter mir Brücken abbrechen, vor mir Türen eintreten".

Nur kann derartiges Vorgehen im Schach zu forcierten Zugfolgen führen. Das absehbare wilde Gefecht fand nur ansatzweise statt. Dann erspähte Duda eine solche forcierte Zugfolge, eine, die ihm ein Dauerschach und einen halben Punkt sicherte. Und, wichtiger noch, eine Alternative offenbarte sich ihm nicht. Da alles andere mit Matt bestraft worden wäre, nahm Duda das Dauerschach und den halben Punkt.

Schachbinsen wie die im Absatz vor diesem ersparte Anish Giri dem Publikum, als er nach dem Remisschluss im Stream seine Partie gegen Andrey Esipenko sezierte. Giri hatte stattdessen Einsichten anzubieten. Im Schach gebe es zwei Arten von Vorteil, den menschlich-organisch herausgespielten und den, der aus besserer Kenntnis von Enginevarianten entsteht. Letzterer, dozierte Giri, sei viel schwieriger zu verwerten.

Logisch: Wenn der Mensch auf Grundlage seiner Pläne und Manöver zu Vorteil gekommen ist, dann ist die Basis, diesen Vorteil auszubauen und zu verwerten, schon gegeben. Sitzt der Mensch vor einer Stellung, von der er nur weiß, dass die Engine sie mit "+0,5" bewertet, dann fängt sein Planen und Manövrieren bei Null an. Giri, der schachtheoretisch womöglich beschlagenste Spieler der Welt, erreicht zu seinem Leidwesen viel häufiger Enginevorteile als organische. Und scheitert beim Verwerten – wie am Sonntag gegen Andrey Esipenko.

WR Chess Masters 2023 – Runde 4
Gukesh witterte einen angeschlagenen Gegner und zettelte eine Prügelei an. Vincent Keymer gab sich keine Blöße. | Foto: Lennart Ootes

Vincent Keymer wäre schon froh, würde er überhaupt einen Vorteil finden, gleich welcher Natur. Mit 0,5 Punkten aus 3 Partien drohte sich auf seinem Rücken eine Zielscheibe abzuzeichnen, und nun stand ihm gegen Gukesh die dritte Schwarzpartie bevor. Trotzdem, es sei für Keymer an der Zeit zuzuschlagen, befand Seirawan – er möge es machen wie am Vortag Praggnanadhaa, der sich nach zwei Nullen eine Eins gesichert hatte.

Eine Wahl hatte der Lokalmatador ohnehin nicht. Gukesh, womöglich in der Annahme, einen angeschlagenen Gegner vor sich zu haben, zettelte sofort eine Prügelei an. Quer übers Brett verteilt, galt es für Keymer, hier einen Zwischenzug, dort ein Matt, hier einen Spieß und dort einen laufenden Freibauern zu bändigen. Der deutschen Nummer eins blieb nichts anderes, als die Deckung hochzunehmen und zu parieren, was kommt. Keymer gab sich keine Blöße, fand aber auch keine Lücke, durch die es sich hätte kontern lassen – remis.

Die meisten Schachspieler sind froh, wenn sie das Läuferpaar haben, und im Angesicht eines Mehrbauern schnalzt nicht nur der bekennende "pawngrabber" Yasser Seirawan mit der Zunge. Wesley So hatte gegen Ian Nepomniachtchi beides, das Läuferpaar und einen Mehrbauern.

WR Chess Masters 2023 – Runde 4
Ian Nepomniachtchi überließ Wesley So Mehrbauer und Läuferpaar. Mit Spendierfreude hatte das nichts zu tun. | Foto: Lennart Ootes

Allerdings hatte ihm Nepomniachtchi beides freiwillig überlassen, erst den Bauern, dann den Läufer. Keineswegs war Spendierfreude sein Antrieb gewesen, sondern die Einschätzung, dass So in der gegebenen Konstellation aus beiden Vorteilen nichts wird machen können. Der angehende WM-Finalist sollte Recht behalten. Nach der ersten Zeitkontrolle endete auch diese Partie unentschieden.

Interviews und Analysen zur vierten Runde im Feed.

Video zu Runde 4:


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