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Kämpferische erste Runde, drei erste Tabellenführer

February 16, 2023

WR Chess Masters 2023, Runde 1 | Foto: Lennart Ootes
WR Chess Masters 2023, Runde 1 | Foto: Lennart Ootes

Drei Siege, zwei Remis, eines davon über sieben Stunden ausgekämpft. Und Zucker für die Ohren gab es noch dazu:

So soll es sein, so soll es weitergehen. Schlaglichter aus den fünf Auftaktpartien des WR Chess Masters:

Ian Nepomniachtchi – Nodirbek Abdusattorov ½-½

Die Partie, die am kämpferischsten begann, endete als erste. Nach 1.d4 Sf6 2.c4 war schon das zweischneidige 2…c5 des 18-jährigen Usbeken eine Kampfansage, und 3…b5 umso mehr. Wolga-Gambit! Das ist auf diesem Level selten zu sehen.

Frucht gezielter Eröffnungsvorbereitung war Abdusattorovs exotische Eröffnungswahl nicht, stattdessen eine Eingebung. "Ich hatte nicht mit 1.d4 gerechnet", erklärte er nach der Partie im Interview. Unlängst habe er sich das Wolga-Gambit angeschaut, "also habe ich es gespielt".

Ian Nepomniachtchi und Nodirbek Abdusattorov bei den WR Chess Masters 2023 | Foto: Lennart Ootes
Ian Nepomniachtchi und Nodirbek Abdusattorov bei den WR Chess Masters 2023 | Foto: Lennart Ootes

Womöglich hatte er sich vor allem die alten Hauptvarianten angeschaut, die im Livestream Yasser Seirawan und Elisabeth Pähtz erörterten: Mit 5.bxa6 den Gambitbauern nehmen oder mit 5.b6 das Gambit ablehnen? Wer indes seinen Stockfish 50 oder 60 Halbzüge tief am fünften weißen Zug rechnen lässt, der bekommt gezeigt, dass die Maschine 5.e3 am besten findet. Und das war es, was Nepomniachtchi zog.

Abdusattorov erklärte, nach Nepos 9.b3 sei er aus dem Buch gewesen, eine mysteriöse Erklärung, denn nach Einschätzung der Engine hatte er zwei Züge zuvor fast auf Verlust gestanden:

8.Sxf6 Lxf6 9. Dd5 nebst Dxc5, und schwarze Kompensation für die zwei Minusbauern ist kaum zu sehen. Nepomniachtchi spielte stattdessen 8.Sf3.8.Sxf6 Lxf6 9. Dd5 nebst Dxc5, und schwarze Kompensation für die zwei Minusbauern ist kaum zu sehen. Nepomniachtchi spielte stattdessen 8.Sf3.

Auf den ersten Blick sah es aus, als würde sich der Weltranglistenzweite mit zwei prächtig auf den schwarzen König strahlenden Läufern trotz dieser verpassten Gelegenheit vorteilhafte Aussichten erarbeiten. Abdusattorov ließ sich auf Lockerungsübungen an seinem Königsflügel ein – zu Recht, wie sich zeigte.

Nein, der Läufer auf e7 hängt nicht wirklich. Nach 15.Dxe7 kann Schwarz mit der Schaukel …Tf7-f8-f7 Remis erzwingen.Nein, der Läufer auf e7 hängt nicht wirklich. Nach 15.Dxe7 kann Schwarz mit der Schaukel …Tf7-f8-f7 Remis erzwingen.

Was gefährlich aussah, war es in der Praxis nicht, und es galt im 15. Zug für für Nepomniachtchi, eine fundamentale Entscheidung zu treffen: sich in eine Zugwiederholung fügen oder ohne greifbaren Vorteil weiterspielen? 15.Dxe7 oder 15.Dg3? Ian Nepomniachtchi nahm sich eine knappe Viertelstunde, um sich davon zu überzeugen, dass er lieber hier den halben Punkt nimmt, als nach 15.Dg3 das Schicksal herauszufordern.

Levon Aronian – Praggnanandhaa 1:0

Die meisten VIPs, die den feierlichen Eröffnungszug ausführen, müssen hinterher mitansehen, wie der Spieler oder die Spielerin diesen Zug zurücknimmt und neu beginnt. Wadim Rosenstein blieb dieses Schicksal erspart.

WR Chess Masters 2023. Levon Aronian vs Praggnanandhaa
Den Bauern akkurat auf c4 abgestellt und dann sogar die Uhr gedrückt: Wadim Rosenstein beim feierlichen Eröffnungszug des Turniers. | Foto: Lennart Ootes
Mit Levon Aronian hatte der Turnier-Organisator und -Namensgeber 1.c4 abgesprochen. Aronian ließ den sauber in der Feldmitte abgestellten Bauern ohne j’adoube stehen – und erwartete ein symmetrisches Englisch, wie er und Praggnanandhaa es schon einmal auf dem Brett gehabt hatten. Stattdessen stand bald ein sehr unorthodoxes Englisch auf dem Brett.

Was Aronian nach der Partie als "billigen Trick" bezeichnete, repräsentiert den Grund, warum er auch im (für Schachprofiverhältnisse) fortgeschrittenen Alter zu den aufregendsten Schachspielern zählt: seine Kreativität.

11.g4!? Darauf muss man erstmal kommen.

Die Idee dahinter kam nicht aufs Brett. Lässt sich Schwarz zu 11…Se5 verführen, folgt 12.g5 Sf3+ 13.Dxf3!, und Weiß erfreut sich prächtiger Kompensation für die geopferte Dame. Praggnanandhaa spielte stattdessen 11…h6. "Leider fällt niemand auf meine billigen Tricks rein", haderte Aronian hinterher schmunzelnd.

Auf die Verliererstraße geriet der Inder nur fünf Züge später.

Stellung nach 15.Dxd5Stellung nach 15.Dxd5

Wohin mit dem König? In der Tat ist die kurze Rochade angesichts des Hebels g4-g5 und des nach g7 strahlenden Lc3 nicht zu empfehlen. Das Problem: Die lange Rochade ist auch nicht zu empfehlen, denn dann hängt f7.

Die Lösung des Problems: cool bleiben. 15…Tc8 oder 15…Td8 hält Schachfreund Maschine für spielbar und etwa ausgeglichen, und Schachfreund Aronian stimmt zu: "Gar nicht so schlecht für Schwarz, kein Grund zur Sorge."

Praggnanandhaa rochierte lang, büßte den Bauern f7 ein und landete recht bald in einem trost- und perspektivlosen Turmendspiel, dass Weiß nach und nach bis zum vollen Punkt knetete.

Andrey Esipenko – Vincent Keymer 1:0

Schon im Januar beim Tata Steel Chess hatte sich Vincent Keymer den Beinamen "Marathon-Mann" erwroben. Meist war er der Letzte der noch am Brett saß, oft, um ein kritisches Endspiel zu verteidigen. Zum Auftakt in Düsseldorf wiederholte sich diese Szenerie. Die anderen hatten Feierabend, Keymer saß noch und verteidigte dieses Endspiel:

Stellung nach 61…Kf7Stellung nach 61…Kf7

Theoretisch ist die Stellung für Weiß nicht zu gewinnen. Aber in der Praxis, mit sechs Stunden Schach in den Knochen sieht die Sache anders aus. Die schwarze Aufgabe ist mehr als undankbar. Yasser Seirawan brachte es im Stream auf den Punkt: "Vincent muss leiden." Natürlich ließ Esipenko die Daumenschrauben angezogen – und wurde nach 101 Zügen mit dem vollen Punkt belohnt.

Dass es zu diesem Endspiel kommen konnte, ist die Folge eines Aussetzers Keymers in der Eröffnung. Sein Zug 14…Sd5 sieht ganz natürlich aus, hat aber einen konkreten Haken, den Andrey Esipenko im 16. Zug auswarf:

16. Sec4! Dieses so gar nicht offensichtliche Figurenopfer führt schon fast zu einer schwarzen Verluststellung. Schwarz hat nichts besseres, als den Gaul zu schlagen. Aber danach wird auf schwarzer Seite g7 fallen, h7 auch, und Schwarz findet weder Koordination und Entwicklung. 

Wesley So – Jan-Krzysztof Duda 1:0

Jan-Krzysztof Duda muss sich vorwerfen, in eine bekannte katalanische Eröffnungsfalle getappt zu sein. Andererseits befindet er sich in guter Gesellschaft. Zum Beispiel der einstige Weltklassespieler Ljubomir Ljubojevic oder der niederländische Spitzengroßmeister Loek van Wely haben diese Stellung nach 15.Lh6! schon aus der schwarzen Perspektive gesehen.

Schwarz hat nichts Besseres als den traurigen Rückzug 15…Lf8, wonach er unterentwickelt und mit unrochiertem König im höheren Sinne auf Verlust steht. 15…0-0 wäre noch schlechter, dann gewinnt 16.Lxg7!. Selbiges gilt für 15…Lxf2+ 16.Kg2 0-0 17.Lxg7! +-.

Um zu sehen, was Schwarz hätte tun sollen, müssen wir zwei Züge zurückspulen:

Stellung nach 13.Td1Stellung nach 13.Td1

Nicht das verlockende 13…Db6, sondern nur das auf den ersten Blick nicht besonders logische 13…Da5! gibt Schwarz gutes Spiel. Die Idee ist, dass weiße Abwicklungen mit Lh6 0-0 Lxg7 nun nicht mehr gut funktionieren. Schwarz kontert mit …Lxf2+, spielt dann …Kxg7, und Weiß hat wegen der schwarzen Dame auf a5 keine Schachs auf g5.

Anish Giri – Gukesh ½-½

Stellung nach 26…cxd5Stellung nach 26…cxd5

Weiß spiele auf zwei Ergebnisse, stellte Elisabeth Pähtz im Livestream fest. Yasser Seirawan erklärte es anhand einer Geschichte. Ihn erinnerte die Konstellation an Partien aus dem WM-Match 1984 zwischen Garry Kasparov und Anatoly Karpov, in denen Kasparov dem Titelverteidiger die Tarrasch-Verteidigung vorsetzte. Und der, getreu seinem Stil, genoss es, auf Kasparovs isoliertem d-Bauern herumzukneten.

Wie sehr es Anish Giri genossen hat, Gukesh eine Massage à la Karpov zu verabreichen, ist nicht bekannt. Sicher ist, dass der Wijk-Sieger mit dem Ergebnis nicht zufrieden gewesen sein wird. Sein indischer Widersacher balancierte zeitweise am Abgrund, musste sich aufgrund der ungleichfarbigen Läufer einer anhaltenden weißen Initiative erwehren, rettete sich aber in ein Endspiel mit Minusbauern. Und in dem gaben die ungleichfarbigen Läufer als Remisfaktoren den Ausschlag.

Video zu Runde 1:

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